Yin, Dojo und Shiatsu

Winter-Zeit ist die Zeit des großen Yin – und wo sie bei ‚uns‘ noch andauert, bis in den Februar, fängt gemäß der chinesischen Medizin ab dem 27-01-24 die Dojo-Zeit an, also die Übergangszeit von Winter zu Frühling.

Letzte Woche lag noch Schnee und die Bürgersteige waren glatt, heute scheint die Sonne, es ist gefühlt 15°C wärmer und die Vögel zwitschern. Es ist schön, bei offenem Fenster zu schreiben und die langsamen Veränderungsprozesse bewusst wahrzunehmen.

Ruht im Winter der Samen unter der Erde, verdeckt, geschützt und genährt, fängt alsbald das Wachsen und Sprießen an. Mit Shiatsu-Anwendungen lassen sich diese Prozesse im Mikrokosmos Mensch unterstützen und fördern. Eine Möglichkeit besteht nun zum Beispiel darin, die Mitte zu stärken – das wirkt sich unter anderem positiv auf unsere Grundhaltung, auf unseren Schlaf und unsere Selbstwahrnehmung aus.

Die Füße, die uns tragen

Im Shiatsu arbeite ich gerne mit den Füßen. Den ganzen Tag stehen und gehen wir auf ihnen, verpacken sie in Schuhe, schnüren sie ab und übersehen sie meistens, wenn es darum geht, den Körper zu dehnen oder zu entspannen. Das erste Mal, als mir das richtig bewusst geworden ist, habe ich gerade Yoga gemacht, barfuß auf der Matte, und kam in eine Asana, in der ich guten Blick auf meine Füße hatte. Aber auch in anderen Situationen, wie zum Beispiel beim BJJ, habe ich gemerkt, wie man die Perspektive auf die eigenen Füße (und die der anderen 😉 ) ändern kann. Und wenn es nur heißt, den Körper mal vom Fuß aus zu betrachten oder zu merken, wo und wie man läuft, was es heißt, hier zu laufen, jetzt, oder einmal die Füße hochzulegen.

Eine klassische Shiatsumassage findet am bekleideten Körper statt, das heißt, auch die Füße sind angenehm in Socken eingehüllt. In unseren Füßen enden und beginnen mehrere der zwölf Hauptmeridiane, der Jing Mai: Niere und Blase, Leber und Gallenblase, Magen und Milz; und ebenso Reflexzonen finden sich hier. Deshalb ist es, je nach Behandlung, ganz wunderbar, den Füßen ein gewisses Extra an Zeit und Aufmerksamkeit zu schenken. Gerade die sanften Anwendungen im Shiatsu wirken so stärkend, vitalisierend und wohltuend, von den Füßen aufwärts. Probiert es gerne einmal aus!

Hand in Hand

Als Jugendliche habe ich sehr gerne Hände gezeichnet, sie haben immer eine gewisse Faszination auf mich ausgeübt. In einem Artikel von Byung-Chul Han, einem zeitgenössischen Philosophen, habe ich gerade heute Folgendes gelesen:

Schon vor der Pandemie lebten wir in einer Gesellschaft ohne Berührung.

Die digitale Kommunikation ist eine Kommunikation ohne Berührung, ohne Blick und Körper, ja ohne Stimme, ohne Anrufung. In den permanenten Zoom-Meetings fristet der Andere ein gespenstisches Dasein ohne Blick und Körper. Wenn der Andere verschwindet, bin ich auf mich selbst zurückgeworfen und ich entwickle mich immer mehr in mein Ego. […]

Körperliche Berührungen sind wesentlich für den Zusammenhalt einer Gemeinschaft. Es ist die Hand, der Händedruck, der das Vertrauen stiftet.

Han, Byung-Chul, Über den Händedruck, in: Philosophie Magazin Nr.03/2022, S.60-61.

Han geht in seinem Text noch weiter darauf ein, wie bereits in den vergangenen Jahren und insbesondere auch aktuell, eine zunehmende Entfremdung stattgefunden hat, eine Entfremdung von den Anderen – und damit letztlich auch eine Entfremdung von sich selbst. Eine Entfremdung zugunsten von Effizienz: Steigerung der wirtschaftlichen Leistung, Optimierung des eigenen Erscheinungsbilds, ein perfektes Familienleben, …

Digitalisierung ist an sich nicht schlecht, auch wenn der Text von Han das nahelegen mag. Die Art und Weise, damit umzugehen, kann ’schlecht‘ oder ‚gut‘ sein. Die von ihm genannten Punkte sind allerdings tatsächlich auffällig. Deshalb:

Was bedeutet es, dem Anderen die Hand zu reichen? Was heißt Berührung? Die Haut ist unser größtes Organ. Sie bildet Grenzen ab, gibt Konturen, reagiert auf unsere Gefühle und auf unsere Umwelt, und so ist sie nach der TCM auch dem Metall zugeordnet. Der Tastsinn geht damit einher: Berühren heißt, etwas oder jemanden anzufassen, tastend wahrzunehmen. Und gleichzeitig ist „berühren“ nicht nur physisch. Eine Geschichte oder ein Lächeln können uns im Herzen berühren. Berührung kann genauso feinstofflich sein.

Im Shiatsu steht die Berührung im Zentrum, und damit das Wahrnehmen des Anderen und das Eingehen auf den Anderen – und interessanterweise genau dann löst sich die Berührung in dem Sinne auf, dass sie nicht weiter eine Brücke zwischen verschiedenen, separierten Individuen ist. Aktive Zen-Praxis.

We should practice so that we can see Muslims as Hindus and Hindus as Muslims. […] We should practice until we can see that each person is us, that we are not separate from others. This will greatly reduce our suffering. We are like the cookies, thinking we are separate and opposing each other, when actually we are all of the same reality. We are what we perceive. This is the teaching of the non self, the interbeing.

Nhat Hanh, Thich, The Heart of the Buddha’s teaching, S.135

Thich Nhat Hanh bezieht sich hier mit den Keksen übrigens auf ein Beispiel, das er vorher im Text erwähnt hatte: ein Keksteig, viele Kekse.

Für mich gehen so Shiatsu und Meditation immer Hand in Hand.

Die Hara-Diagnose

Im Shiatsu werden verschiedene Diagnoseverfahren angewendet, um die individuell angepasste Anwendung herauszukristallisieren. Eines hiervon ist die Hara-Diagnose.

Durch die Hara-Diagnose kann der Shiatsu-Praktiker den energetischen Zustand seines Klienten erfassen. Das Hara ist das Energiefeld, das sich im Bereich des Abdomens befindet. So liegt es zwischen dem unteren Dantien (oder jap. tanden) und dem mittleren Dantien. Kampfkünstler und Qi Gong-Praktizierende kennen sich hier aus!

Das Hara ist in zwölf Zonen eingeteilt, die den zwölf Hauptmeridianen, den Jing Mai, entsprechen. Indem der Shiatsu-Praktiker die Zonen abtastet, stellt er fest, wie die Energieverteilung ist: Welche Zonen fühlen sich ausgeglichen an, welche sind im ‚Jitsu‘ (Fülle) und welche sind im ‚Kyo‘ (Leere)?

Sanft wie ein fallendes Blatt landet die Hand des Praktikers auf dem Hara.

Hierbei geht es nicht um das physische Abtasten der Organe – so liegt beispielsweise die Gallenblasen-Zone nicht dort, wo sich die Gallenblase anatomisch befindet –, sondern um das energetische Erfassen der Funktionskreise. Die Hara-Diagnose komplettiert somit die Diagnose insgesamt und ist letztlich ausschlaggebend für die Behandlung!

Die Hara-Diagnose gibt so ein Abbild unserer „Energie-Landschaft“ und zeichnet das Shiatsu gerade in Abgrenzung zu anderen Formen der Massage und Körperarbeit aus.

Derart ist es mir möglich, beim Shiatsu auf tagesaktuelle Energieverteilungen einzugehen und diese in den Fluss der Behandlung zu integrieren. Lassen Sie sich gerne überzeugen!

Zur „Energie-Landschaft“. Makrokosmos-Mikrokosmos-Verhältnis.

Von den Ursprüngen des Shiatsu

„Shiatsu“ ist eine moderne japanische Bezeichnung für eine Anwendungsform, die weit in die Geschichte zurückreicht. Von der Akupunktur weiß man, dass sie bereits vor 4000 bis 6000 Jahren mittels Steinnadeln praktiziert worden ist. Man nimmt an, dass Massage noch früher angewendet wurde, da sie dem Menschen zur Heilung intuitiv zugänglich ist.

China, das Reich der Mitte

Shiatsu geht auf alte chinesische Techniken zurück, Daoyin und Tuina Anmo.

Daoyin (oder japanisch: Do-In) ähnelt Yoga, Tuina Anmo (japanisch: Anma) lässt sich mit westlicher Massage vergleichen.

Das chinesische medizinische Wissen, der Daoismus und auch der Buddhismus sind etwa im 10. Jh. n.Chr. nach Japan gekommen.

Sakura, die Kirschblüte, markiert den Beginn des Frühlings im japanischen Kalender.

Traditionell war Anma in Japan ein Blindenberuf, da es einen besonders ausgeprägten Tastsinn erfordere. Das ist mittlerweile nicht mehr so. Das heutige Shiatsu ist eine relativ junge Kunst, aus dem 20. Jahrhundert stammend, die sich auf ihre therapeutischen Ursprünge zurückbesinnt – in Abgrenzung zu Anma, das vielfach nur zur Erholung und Entspannung, sozusagen als „Wellness“ angewendet wird. 

Um die Wirkweisen von Shiatsu in der Tiefe zu verstehen und die Massage entsprechend richtig zu praktizieren, nicht als bloße Mechanik, braucht es die Auseinandersetzung mit dem Daoismus.

Es sind gerade das Zusammenspiel der Kulturen und das alte Wissen um die Wirkweise von Berührung sowie Lebensart – insbesondere im Kontrast zu unserer heutigen schnelllebigen und zunehmend digitalisierten Gesellschaft –, die mich immerzu faszinieren.